Palitana: Zurück im Klassenzimmer

 

Plötzlich stehen wir wieder vor einer Tafel und mindestens 20 Augenpaare sind auf uns gerichtet. Irgendwie hatten wir uns indische Schüler disziplinierter vorgestellt. Wir sind bei Bharat, einem Couchsurfer aus Palitana. Er betreibt in dem kleinen Ort eine private Englischschule in die viele Eltern ihre Kinder nach dem Unterricht schicken um ihnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Bharat bringt uns in jede seiner fünf Klassen und lässt uns dann für eine Stunde mit den Jugendlichen allein, damit sie keine Scheu haben, Fragen zu stellen oder damit er in Ruhe seinen Chai trinken kann. Gleich die erste Frage hat es in sich: Glaubst du an Gott? Dann: Was ist dein Traum? Langsam wird die Stimmung lockerer und da den Schülern die Fragen ausgehen, fragen wir was uns interessiert. Was wollen Jugendliche an diesem abgelegen Ort werden? Ein 14 jähriger in der ersten Reihe ist uns sofort aufgefallen weil er jedes Wort aufsaugt und gebannt an unseren Lippen hängt. Seine Antwort trifft mich ins Mark und ich denke noch lange an ihn. „Ich würde gerne Bankmanager werden. Da meine Familie aber wenig Geld hat, muss ich sie nach der 10. Klasse unterstützen und anfangen in einem Teeshop zu arbeiten. Dort werde ich 8000 Rupien (ca. 106 €) im Monat verdienen.“ Nur einer Laune des Schicksals ist es zu verdanken, dass er nicht in eine reiche Familie in Delhi oder Europa hineingeboren wurde. Und eben diese hätte mich in eine arme Familie in einem Dorf im indischen Nirgendwo aufwachsen lassen können.
In anderen Klassen kommen noch viele Fragen. Natürlich sind wir auch hier als Deutsche mit der Frage nach Hitler und dem zweiten Weltkrieg konfrontiert. Ich bin froh, endlich einmal erklären zu können, warum das für uns kein Spaß ist.
Zwar hören längst nicht alle zu, aber die erste Reihe nickt betroffen.
Eine andere Gruppe, die weniger gut in Englisch aber dafür voller Tatendrang ist, stürmt zu uns und verlangt sogar Autogramme. Wir müssen schmunzeln, schreiben aber in Sonntagsschrift unsere Namen auf 20 Hefte.
Am Ende sind wir ziemlich erschöpft und froh, in Deutschland Lehrer zu sein. Hier in Indien sind in Privatschulen 40 und in staatlichen Schulen 60 Kinder in einer Klasse. Aus Mangel an Räumen und Personal geht die eine Hälfte der Schüler Vormittags und die andere Nachmittags zur Schule. Der Lehrer ist natürlich immer dort. Oder er sollte es zumindest sein. Wir erfahren nämlich außerdem, dass jeder Lehrer an einer staatlichen Schule arbeiten möchte, jedoch niemand sein Kind auf eine solche Schule schicken will. Zuerst verstehen wir das überhaupt nicht. Aber schließlich klärt uns jemand auf, dass man als Beamter sein Geld bekommt, egal, ob man unterrichtet oder nicht. Viele Lehrer kommen also erst gar nicht. Es ist deshalb nicht selten, dass man gar nicht richtig lesen und schreiben lernt obwohl man zur Schule geht. Außerdem verdienen die Beamten mehr als die Lehrer an Privatschulen. Plötzlich macht unser Einwand, bettelnden oder arbeitenden Kindern kein Geld zu geben weil sie besser zur Schule gehen sollten, nicht mehr so viel Sinn. So ist es immer in Indien. Alles ist so kompliziert. Die Lösung gesellschaftlicher Probleme scheint hier unmöglich.

Am nächsten Morgen stehen wir früh auf und Bharat fährt uns zum Fuß des Shatrunjaya Hills. Auf ihm soll der erste Jain erleuchtet worden sein. Der Aufstieg ist 3500 Stufen und 1,5 Stunden lang. Oben angekommen erwarten uns um die tausend wunderschön verzierte Tempel und eine unglaubliche Aussicht. Den Berg umgibt weit und breit nur flaches Land. Wir verbringen lange Zeit hier oben und sehen den Pilgern zu.

Abends stochern wir ein bisschen in unserem Essen. Noch mehr als im Iran kann couchsurfing hier wirklich anstrengend sein. Wir kommen aus einer anderen Kultur mit einer anderen Definition von Hygiene. Das Abendessen wird auf dem blanken Boden serviert, auf dem jeder mit seinen Füßen, die draußen nur in Flipflops steckten, herumläuft. In der Milch schwimmt für alle sichtbar eine fette schwarze Fliege. Außer uns scheint das niemanden zu interessieren. Der kleine Junge der Gastgeber hat eine  Wunde am Zeh und hält seiner Mutter schreiend den Fuß über den Teller während sie ihn seelenruhig verbindet. Als Süßigkeit gibt es gestocktes Kolostrum. Das ist die erste Milch, die eine Kuh nach dem Kalben gibt. Sie ist so reich an Nährstoffen und Wachstumshormonen, dass sie manche Sportler als Doping einsetzten. Zum Glück passt keiner auf, ob wir uns davon nehmen oder nicht. Trotzdem merken sie wohl, dass wir wenig essen. Bharats Frau ist überhaupt ziemlich mürrisch. Und auch hier wird alles, was von der Norm abweicht, abgwertet. Ich bekomme mit, wie sie einer dicken, alten Nachbarin erzählt, dass wir keine Kinder haben. Sie mustern uns abschätzig. „Die müssen doch irgendeinen Defekt haben!“, scheinen sie zu sagen.
Ein anderes Mal fragt sie mich vor ihren Auszubildenden ihres Beautysalons, ob meine Ohrringe aus echtem Gold sind. Wahrheitsgemäß antworte ich, dass sie nur vergoldet und günstig sind. Für mich kein Problem, in ihren Augen aber sehr peinlich.

Oft haben wir von Indern stolz gehört, dass sie keine Regeln befolgen, wenn sie bei Rot über die Ampel rasen, sich an Wartenden vorbeidrängen oder ihren Müll irgendwo hin schmeißen.
Aber tatsächlich merken wir ständig wie versessen viele auf gesellschaftliche Konventionen sind. Es ist einfach undenkbar nicht das zu tun was der Vater möchte, keine superteure Hochzeit zu feiern, die die ganze Familie in finanzielle Not stürzt oder Dinge, die schon immer so waren zu hinterfragen.

 

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